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Wann ein Haarverlust als Behinderung gilt

Zwei Gerichtsurteile zeigen, wann und in welchem Umfang die gesetzliche Krankenversicherung für eine Perücke zahlen muss, wenn ein gesetzlich Krankenversicherter unter Haarausfall leidet.

(verpd) Gesetzlich Krankenversicherte, die aus medizinischen Gründen ein maßgefertigtes Echthaarteil benötigen, können von ihrem Versicherer nicht mit einer Kunsthaarperücke abgespeist werden. Dies erklärte das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen in einem jüngst veröffentlichten Urteil (Az.: L 4 KR 50/16). Ein älteres Urteil des Bundessozialgerichts zeigt zudem, welche Kriterien bei einem Haarverlust vorliegen müssen, damit die Krankenkasse überhaupt zum Kostenersatz verpflichtet ist.

Eine 55-Jährige litt infolge einer diagnostizierten Schuppenflechte zunehmend unter einem kreisrunden Haarausfall. Um die kahlen Stellen zu bedecken, wollte die Frau ein handgeknüpftes Echthaarteil nutzen. Hierfür beantragte sie bei ihrer Krankenkasse, einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) die Übernahme der Kosten in Höhe von knapp 1.300 Euro.

Die Krankenkasse hielt die Versorgung mit einem Echthaarteil jedoch für überflüssig. Sie genehmigte der Frau daher lediglich eine Kostenübernahme bis zum Höchstbetrag von 511 Euro. Für diesen Betrag könne sie bundesweit eine Kunsthaarperücke erhalten.

Behinderung

Das begründete die Krankenkasse damit, dass eine Kunsthaarbrücke völlig ausreichen würde, um ein unauffälliges Erscheinungsbild wiederherzustellen. Denn die Versicherte bewege sich nicht überwiegend in der Öffentlichkeit, sondern erhebliche Zeit in ihrem privaten Umfeld. Eine teurere Versorgung würde dem Wirtschaftlichkeits-Gebot gemäß Paragraf 12 SGB V (Fünftes Sozialgesetzbuch) widersprechen. Gegen diese Entscheidung reichte die betroffene Frau eine gerichtliche Klage ein.

Das Osnabrücker Sozialgericht gab der Klage der Betroffenen statt. Und auch das für den Fall zuständige Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen wollte sich der Rechtsauffassung der Krankenkasse nicht anschließen und wies die Berufung der Krankenkasse gegen das Urteil des Osnabrücker Sozialgerichts als unbegründet zurück. Nach Ansicht der Richter ist ein partieller Haarverlust einer Frau als Behinderung anzusehen. Der Fall der Betroffenen sei folglich unter diesem Aspekt zu beurteilen.

Ziel der Versorgung behinderter Menschen mit Hilfsmitteln durch einen Krankenversicherer sei die Förderung ihrer Selbstbestimmung und ihrer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. „Die sich daraus ergebende Frage, welche Qualität und Ausstattung ein Hilfsmittel haben muss, um als geeignete, notwendige, aber auch ausreichende Versorgung des Versicherten gelten zu können, beantwortet sich danach, welchem konkreten Zweck die Versorgung im Einzelfall dient“, so das Landessozialgericht.

Keine zweckmäßige Versorgung

Eine Krankenkasse schulde ihren Versicherten in der Regel zwar nur eine Versorgung, die den Haarverlust nicht sogleich erkennen lasse. Das ursprüngliche Aussehen umfassend zu rekonstruieren, sei von der Leistungspflicht nicht umfasst. Je nach den gegebenen Umständen könne es jedoch erforderlich sein, den Versicherten mit einem maßgefertigten Echthaarteil zu versorgen. So auch im Fall der Klägerin. Denn deren Dermatologe hielt es angesichts ihres Krankheitsbildes für kontraindiziert, das verbliebene Haupthaar vollständig abzudecken.

Eine Kunsthaarperücke, die zu einem Festbetrag erhältlich ist, stelle daher keine zweckmäßige Versorgung dar. Die von der Patientin geforderte Lösung sei vielmehr medizinisch notwendig. Die Krankenkasse wurde daher unter Abzug eines Selbstbehalts von zehn Euro dazu verurteilt, den von der Klägerin geforderten Betrag zu zahlen. Ein nicht krankhafter Haarausfall, wie er insbesondere im Alter vorkommen kann, zählt übrigens nicht als Behinderung, wie sich aus dem Paragraf 2 Absatz 1 SBG IX (Neuntes Sozialgesetzbuch) ableiten lässt.

Hier steht: „Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnes-Beeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.“

Unterschied zwischen Mann und Frau

Ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG, Az.: B 3 KR 3/14 R) von 2015 zeigt aber, dass Haarausfall nicht gleich Haarausfall ist. Laut BSG verliere „die überwiegende Zahl der Männer im Laufe des Lebens ganz oder teilweise ihr Kopfhaar. Anders als haarlose Frauen erregen haarlose Männer aber weder besondere Aufmerksamkeit … noch werden sie stigmatisiert. Haarlosigkeit bei Frauen tritt aus biologischen Gründen nicht regelhaft im Laufe des Lebens ein und ist daher ein von der Norm abweichender Zustand, der – wenn er entstellend wirkt – krankheitswertig sein kann“.

„Die Versorgung einer Frau mit einer Perücke kann daher Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sein“, so das BSG. Das BSG erklärt, dass zwar der typische Verlust des Kopfhaares beim Mann weder eine Krankheit noch eine Behinderung ist. „Ein darüber hinausgehender Haarverlust, der unter anderem auch die Brauen, Wimpern und den Bartwuchs umfasst (Alopecia areata universalis), kann jedoch bei einem jungen Mann eine Krankheit darstellen“, so das BSG. Damit wären die Voraussetzungen für die Kostenübernahme einer Perücke durch die GKV gegeben.

„Ein von vollständigem Haarverlust (Alopecia areata universalis) betroffener Mann kann von der Krankenkasse die Versorgung mit einer Perücke nur dann beanspruchen, wenn sein Aussehen objektiv als entstellend wirkend empfunden werden kann. Dass die Kahlköpfigkeit bei Frauen einen Anspruch auf Versorgung mit einer Perücke regelmäßig auslöst, während dies bei Männern nur ausnahmsweise – und dann in jüngeren Jahren – der Fall sein kann, verstößt nicht gegen das Verbot geschlechtsspezifischer Ungleichbehandlung“, so die Leitsätze im BSG-Urteil.



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